Zwei Redner prägen die erste Vorlesungswoche

Anfang Oktober startete das neue Studienjahr an der Theologischen Hochschule Reutlingen (THR) der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK). Zwei öffentliche Vorlesungen in der ersten Studienwoche erhielten großen Zuspruch. Matthias Morgenstern, Professor für Religionswissenschaft und Judaistik vom Institutum Judaicum der Universität Tübingen, hielt die Eröffnungsvorlesung zum Thema »Jüdische und christliche Bibelauslegung«. Der bekannte Benediktinerpater Anselm Grün hielt einen Vortrag zur »Benediktinischen Spiritualität als Antwort auf die Erfahrung der Wüstenmönche«.

Gibt es »eine wahre Auslegung« des Alten Testaments?

Kurzweilig, interessant und herausfordernd gewinnt der Tübinger Professor Matthias Morgenstern sein Publikum für das Thema »Jüdische und christliche Bibelauslegung«. Bis vor achtzig Jahren sei die jüdische Bibelauslegung fast durchweg in Gegenüberstellung zur christlichen zitiert worden, erklärte der Redner. Heute werde sie fast ausschließlich zustimmend zitiert, sodass die jüdische Auslegung vielerorts als erste, ursprüngliche und damit »wahrste« Auslegung des Alten Testaments gelte.

Dem widerspricht der Tübinger Professor: Jüdische und christliche Interpretation des Alten Testaments seien zeitgleich entstanden und kennten ähnliche Voraussetzungen. Während Christen das erste Testament vornehmlich »durch Christus« betrachteten, sei die jüdische Lesart wesentlich vom Standpunkt des Talmuds geprägt, der maßgeblichen Sammlung religionsgesetzlicher Diskussionen im Judentum. Was auf den ersten Blick unterschiedlich wirke, stehe sich also in Wahrheit verhältnismäßig nahe.

Jüdische Bibelauslegung nicht künstlich kopieren

Anhand verschiedener Beispiele fragt Morgenstern schlussendlich nach der Berechtigung einer von Christus bestimmten Auslegung des Alten Testaments, weil in den meisten Texten des Alten Testaments Christus auf der Wortebene gar nicht vorkomme. Die Frage, ob damit jüdische Tradition christlich vereinnahmt werden, kontert Morgenstern mit der Gegenfrage: »Warum sollte ich das Alte Testament so auslegen, als ob es Christus nicht gäbe?«

Der Standpunkt, von dem aus Christen die Bibel auslegten, gründe sich in Christus und sei damit ein anderer als der einer jüdischen Auslegung. So lange diese Unterscheidung klar sei, gebe es keinen Grund dafür, in einem christlichen Kontext einen jüdischen Standpunkt zu übernehmen und Christus auszublenden, so der 64-jährige Referent. Es sei weder nötig noch möglich, denn die Bibel jüdisch auslegen zu wollen, sei der jüdischen Tradition vorbehalten, die es nicht auf künstliche Weise zu kopieren gelte.

In der Diskussion des Vortrags wies Morgenstern dennoch auch auf die Parallelen beider Auslegungsweisen hin. Die Suche nach dem historischen Sinn der Texte ermögliche eine jüdische und christliche Auslegung. Das Eingeständnis, Texte nie unvoreingenommen oder objektiv lesen zu können, verhelfe gegenseitig dazu, den Standpunkt des jeweils anderen nicht einfach abzulehnen, sondern verstehen zu können.

Verwandelt werden, nicht beherrschen

Der Impuls des bekannten Benediktinerpaters Anselm Grün setzte in der ersten Vorlesungswoche einen spirituellen Akzent. Der Ordensgeistliche und promovierte Theologe beschrieb die Verbindung zwischen den mönchischen »Wüstenvätern« und der benediktinischen Tradition. Der vom dritten nachchristlichen Jahrhundert an stattfindende Rückzug der ersten Mönche in die ägyptische Wüste galt der »Beherrschung der Leidenschaften«, im heutigen Sprachgebrauch als Süchte, Lüste und Zwänge benannt. Die Mönche hätten diese aber nicht abtöten wollen. Vielmehr sei es darum gegangen, sie zu akzeptieren und zu verwandeln.

Echte Spiritualität, so der populäre Redner, blicke kritisch auf die gegenwärtige Veränderungswut. Diese ziele aufs Beherrschen und nicht darauf, auf Gott hin verwandelt zu werden. Die Wüstenväter wollten jedoch »durch Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis« gelangen, so Grün, der als studierter Betriebs- und Volkswirt die Machbarkeits- und Veränderungsmethoden des heutigen Managements gut kennt.

Es geht um die »Einmittung« in Gott

Benedikt von Nursia, Gründer des benediktinischen Ordens, habe später vieles von den ersten Mönchen übernommen und großen Wert auf Gemeinschaft, Arbeit und Gebet gelegt. Gemeinschaft werde betont, weil der Mensch sich selbst – auch im Kloster – am deutlichsten im Gegenüber erkenne. Die Arbeit sei ein Hinweis darauf, ob die, wie Grün es bezeichnete, »Einmittung in Gott« geglückt sei. Das Gebet diene schlussendlich dazu, in der eigentlich wortlosen Kommunikation das Geheimnis Gottes zu erfahren.

In der Hochschule fand der 78-jährige »spirituelle Meister« ein Publikum vor, das die wahren und weisen Worte dieses meisterlichen Redners mit der Hoffnung aufnahm, dass es nicht der letzte Besuch des Benediktinermönchs gewesen sein möge.

 

Weiterführende Links

Vortrag Prof. Dr. Matthias Morgenstern  (You-Tube-Video)
Vortrag Pater Dr. Anselm Grün  (You-Tube-Video)

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